1. Die Anthologie Des Minnesangs Frühling

1.1 Das Konzept

Der Initiator der Anthologie Des Minnesangs Frühling, die in der mediävistischen Literaturwissenschaft seit ihrer Erstauflage im Jahr 1857 nie an Bedeutung verloren hat, war Karl Lachmann. Seine Absicht war es, einen Sammelband zu schaffen, der einerseits für die literaturwissenschaftliche Arbeit mit Minnelyrik geeignet ist und sich andererseits ausschließlich auf Werke aus der Anfangszeit des Minnesangs konzentriert, also einen Überblick über die frühhöfische deutsche Liebeslyrik in der Zeitspanne von etwa 1170 bis 1200 bietet. Im Vorwort zur ersten Ausgabe beschreibt Moritz Haupt Lachmanns Intentionen folgendermaßen: Lachmann hatte die Absicht "Die lieder und leiche aus der frühzeit des deutschen minnesangs in reinlicher und bequemer sammlung zu vereinigen [...]"  * Geplant war sie für literaturwissenschaftliche Zwecke.

Das Werk spiegelt die romantische Grundhaltung der Literaturwissenschaft dieser Zeit wieder: Der eine Aspekt, der schon aus dem Titel hervorgeht, ist die Idee, dass Literatur wächst und wie der Jahresablauf in einzelne Phasen unterteilt werden kann: Frühling, Sommer, Herbst, (? Winter ?). Nach Lachmanns und Haupts Vorstellung hätten dieser Anthologie nämlich noch zwei weitere, Des Minnesangs Sommer und Walthers Schule, folgen sollen; diese sind allerdings nie realisiert worden.

Der andere Aspekt ist der Umgang mit den überlieferten Texten. Hierzu muss allerdings einiges vorausgeschickt werden: Lachmann kann wahrscheinlich als Begründer der modernen Editionswissenschaft betrachtet werden, dessen Ansichten, Arbeitsweisen und vor allem Ergebnisse die Mediävistik über die Jahrzehnte teilweise bis heute geprägt haben. Die Absicht der damaligen Wissenschaft war es, einen Text meist anhand eines Überlieferungsstranges statt anhand einer einzelnen Handschrift zu edieren, um damit den Urtext so gut als möglich zu rekonstruieren. Man überlieferte also nicht im engsten Sinn dieses Worte, sondern man schuf. Aus dieser Arbeit haben sich dann auch die Regelwerke zu Grammatik und Metrik entwickelt, die sich allein auf diese Rekonstruktionen stützen und selbst wiederum benutzt werden, um neue Editionen zu rechtfertigen. In dieser Anfangszeit wurde ein Grundgerüst errichtet, das sich ausschließlich auf sich selbst stützt, und die heutige Editionswissenschaft hat sich so weiter entwickelt, dass die Standfestigkeit dieses Gerüstes wirklich in Frage gestellt werden muss.

So auch der Sinn einer Anthologie wie Des Minnesangs Frühling, die in ihrer Konzeption durch Überlieferungen in keiner Weise belegbar und im Sinne einer modernen Editionswissenschaft eigentlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Helmut Tervooren spricht diesem Werk im Vorwort zur neuesten Bearbeitung, der 38. Auflage, "kanonische Geltung" zu, was zumindest zwei Schlussfolgerungen zulässt: Entweder wird die moderne Editionswissenschaft noch immer nachhaltig von den Ergebnissen und Ideen Lachmanns und seiner Zeit geprägt, oder diese Anthologie verkörpert etwas für die mediävistische Literaturwissenschaft Einzigartiges. Welcher dieser Schlüsse nun zulässig ist, wird in den weiteren Kapiteln dieser Arbeit zu beweisen sein.

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