Am Beginn meiner Arbeit habe ich die Frage aufgeworfen, warum sich die von Karl Lachmann geschaffene Anthologie Des Minnesangs Frühling über die vielen Jahrzehnte bis heute erhalten hat, und immer wieder Interesse an Neubearbeitungen und Neuauflagen vorhanden war. Diese Frage ist nach dem Vergleich der einzelnen Bearbeitungen und einer konkreten Textanalyse leider noch immer nicht leicht zu beantworten.
Spätestens nach der Bearbeitung durch Moser und Tervooren ist der Einfluss Lachmanns auf editorischer Ebene verdrängt worden, und die Grundlagen einer modernen Editionswissenschaft haben diese Stelle eingenommen, sodass die letzten Auflagen der Anthologie in diesem Bereich sehr wohl auf neuestem Stand sind. Meine andere Schlussfolgerung, dass dieses Werk etwas in wissenschaftlichem Sinne Einzigartiges darstelle, ist ebenfalls nicht haltbar. Des Minnesangs Frühling widerspiegelt keinen für die heutige mediävistische Literaturwissenschaft wichtigen mittelalterlichen Werkcharakter, da es sich um eine konstruierte Texteinheit handelt, die in ihrer Zusammenstellung von romantischen Beweggründen beeinflusst worden ist. Außerdem bleibt die Zusammenstellung der im Werk angeführten Autoren noch immer fraglich, da neben frühen Dichtern durchaus auch Minnesänger der Blütezeit wie etwa Reinmar oder Heinrich von Morungen vertreten sind.
Der Hauptgrund, warum man trotzdem immer wieder auf
dieses Werk zurückgreift, muss in anderen Bereichen gesucht werden, und ich
vermute, ihn auch gefunden zu haben: In gewissem Sinne stellt diese Anthologie
nämlich doch etwas Besonderes dar, denn sie bietet neben einer großen Anzahl von
Texten eine detaillierte Sammlung wissenschaftlicher Fakten und eine Unzahl an
Verweisen auf weiterführende Literatur. Den ausschlaggebenden Beweggrund, den
ich einigen Generationen von Benutzern unterstellen will, wird auch schon von
Lachmann im Vorwort zur ersten Auflage selbst genannt : Er will den Benutzern
eine "bequemliche" Sammlung von Minnelyrik zu Verfügung stellen, und deren
Reaktion gibt seinen Intentionen recht.