Wie nachhaltig der Geist Lachmanns die Wissenschaft noch beeinflusst, erkennt man an der Neubearbeitung Des Minnesangs Frühling durch Carl von Kraus aus dem Jahre 1940. Die folgenden Zitate und Beispiele werden diese Aussage näher erläutern.
Mit vielen Änderungen und Neuerungen, die Kraus nach Vogt dieser Anthologie hat angedeihen lassen, macht er in wissenschaftlichem Sinne einen Schritt zurück zu den Anfängen und zurück zu Karl Lachmann. Am deutlichsten kann man das wohl aus diesem Zitat ablesen:
Daß es dabei unmöglich ist, in vielen Fällen den
ursprünglichen Wortlaut zurückzugewinnen, ist mir deutlich bewusst. Aber ich
hoffe, nur dort eingegriffen zu haben, wo die Worte des Dichters entstellt sind:
oft [!] weisen darauf schon formale Störungen hin, öfter ergibt sich aber auch,
daß die Verderbnis sich nicht durch äußere Schäden kund tut, sondern nur dem
erkennbar wird, der in die Art des Dichters und seiner Genossen eingedrungen
ist. Solche Änderungen sind das Ergebnis einer Synthese, die aus der Kunst der
ganzen Zeit gewonnen ist: ist mir da misselungen an, so scheint es mir noch
immer besser als sich stumpf zum Abschreiber des Abschreibers zu machen.
*
So ergeben sich für Kraus vermehrt Zweifel an der Echtheit vieler Strophen, er fasst neu zusammen, reiht neu und weist Lieder auch neu zu. Das Problem hierbei ist, dass er zu oft nach Inhalt und Wortwahl einer Strophe wertet und es kommt schließlich zu Urteilen über einzelne Texte, die Thomas Bein folgendermaßen zusammengefasst hat:
So gibt es Fälle, in denen Texte einem Dichter
abgesprochen werden, weil sie z.B. ‚zu simpel', ‚zu banal' oder ‚zu
undurchsichtig' sind. Formulierungen, denen es an ‚Schärfe', ‚Präzision' oder
‚Eleganz' fehlt, werden ebenfalls verdächtigt, von dilettantischen Epigonen
[...] verfasst worden zu sein. *
Sein gewagtester Schritt, der für Aufruhr in Forscherkreisen gesorgt hat, ist allerdings der Abdruck der Lieder Heinrichs von Veldeke in dessen rekonstruierter Mundart, dem limburgischen Dialekt. Schon Lachmann und Haupt haben mit dem Gedanken gespielt, diese Änderungen vorzunehmen, doch das Faktum, dass dies nicht wissenschaftlich belegbar ist, ließ sie wieder davon Abstand nehmen.
Doch Kraus ist auch für einige positive Neuerungen verantwortlich: Er fügt dem Werk einen zweiten Band hinzu, nämlich die Untersuchungen. Diese beinhalten die wissenschaftlichen Erkenntnisse seit der letzten Bearbeitung der Anmerkungen durch Friedrich Vogt. Die Anmerkungen von Haupt und Vogt verbleiben allerdings im Textband und werden durch Verweise ergänzt, die bei neuen Erkenntnissen auf die Untersuchungen verweisen. Es gelingt Kraus aber nicht, die Masse an Informationen durch diesen Schritt übersichtlicher zu gestalten, die Arbeit mit dem Werk wird dadurch nur erschwert.
Kraus gliedert auch das Verzeichnis der benutzten Handschriften aus dem Vorwort aus, und die Literaturhinweise dazu werden mit aktuellen Titeln erweitert und ergänzt. Die wichtigste Änderung ist aber sicher die Zweiteilung des Leseartenapparates in Angaben über die handschriftliche Überlieferung und in einen weitern Apparat, in dem er die Varianten seiner Vorgänger sammelt. Kraus geht hier im Vergleich zu den früheren Bearbeitern sehr genau und detailliert vor, so notiert er im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch Korrekturen in der Handschrift, wie zum Beispiel bei Lied 3,7.
Bis zum Jahr 1977 fungiert Carl von Kraus als
Herausgeber Des Minnesangs Frühling, und in der gesamten Zeit behält er seine
fast schon antiquierten Ansichten bei. In den fast 40 Jahren, die seit seiner
ersten Überarbeitung des Werkes vergangen sind, haben sich in der
Editionswissenschaft allerdings gravierende Änderungen ergeben und völlig neue
Arbeitstechniken entwickelt, die erst mit den beiden nachfolgenden Bearbeitern
in Des Minnesangs Frühling aufgenommen werden.