1.2.4. Hugo Moser und Helmut Tervooren

Diese Neuerungen, die ich oben angesprochen haben, ziehen sich durch alle Bereiche des Werkes: das Layout, die Leseartenapparate oder die editorischen Methoden. Vorwegnehmend lässt sich bereits feststellen, dass Des Minnesangs Frühling moderner, umfangreicher und auch übersichtlicher gestaltet worden ist.

Als ersten und wahrscheinlich wichtigsten Punkt möchte ich mich mit den Neuerungen im editorischen Bereich befassen. Moser und Tervooren wenden sich völlig von der "Lachmannschen Methode" ab und führen die sogenannte "Leithandschriftmethode" in das Werk ein, mit der man sich nach der am besten beschaffenen, nach der ältesten, etc. Handschrift richtet, um einen Text zu edieren. Diese Methode war in den siebziger Jahren noch relativ jung, und doch gehen Moser und Tervooren mit ihrer Editionsmethode noch einen Schritt weiter: Es war in der Wissenschaft üblich, das Lied als grundlegende Ordnungseinheit zu betrachten, und somit die Leithandschrift auch für ein gesamtes Lied festzulegen. In ihrer Neubearbeitung Des Minnesangs Frühling ändern Moser und Tervooren dies Vorgangsweise und legen die Leithandschrift nur für eine Strophe fest. Ihre Beweggründe dafür liegen in dem Schluss, dass die Strophe als kleinster Baustein eines Liedes angesehen werden muss und somit auch mehr Aufmerksamkeit durch den Dichter erfährt als das gesamte Lied. Sie begründen ihre Schlussfolgerung mit jener Situation der Überlieferung, wo verschiedene Versionen von Liedern nebeneinander existieren. Dass dieser Schritt Kritik und sogar Ablehnung herausforderte, ist klar, und im Vorwort zur 37. Auflage begründen sie ihre Entscheidung erneut und deutlicher:

Das mehrstrophige Lied ist dagegen in seiner Verwirklichung stärker von den Bedürfnissen der Aufführungssituation bestimmt und darum in seiner Gestalt weniger fest [...] Diesen Sachverhalt spiegelt die Überlieferung in der differierenden Strophenzahl und folge; sie zeigt mögliche liedhafte Einheiten, die im Mittelalter neben anderen bestanden haben.    *

Die Leithandschrift kennzeichnen sie auch in den handschriftbezogenen Kurzangaben zu den einzelnen Strophen, die, wie von Vogt eingeführt, rechts neben der ersten Strophe des Liedes zu finden sind, durch eine Kursivsetzung der jeweiligen Sigle der Leithandschrift, alle übrigen Handschriften sind recte gesetzt.

Moser und Tervooren erweitern auch den Leseartenapparat, den sie wie Kraus zweigeteilt haben. Im HandschriftenApparat verzeichnen sie die Unterschiede in der Lautung der Handschrift und Kraus' zweiter Apparat wird zu einem kommentierten Apparat ausgebaut, in dem neben den verschiedenen Lesearten auch Hinweise auf weiterführende Literatur geboten werden. Zu den einzelnen Liedern werden jetzt auch Übersetzungshilfen geboten, die jeweils nach der letzten Strophe auf ein Lied folgen. Zu diesem Punkt wichtig zu notieren ist auch, dass sie alle Möglichkeiten der modernen Textbearbeitung ausschöpfen, um eine möglichst übersichtliche und vor allem handschriftennahe Edition zu bieten: Sie markieren sich reimende Zeilen durch Einrückungen, Binnenreime durch Sperrdruck, ersetzte Wörter und ersetzte oder hinzugefügte Buchstaben durch Kursivdruck, ... Die Liste ließe sich beliebig lange fortsetzen.

Im Bereich des Layouts hat es seit Kraus, der sich auf die Strophenzählung nach Lachmann beschränkt hat, ebenfalls bedeutende Änderungen gegeben. So sind die einzelnen Töne der Dichter mit römischen Ziffern durchgezählt und mit Überschrift versehen worden; die Strophen innerhalb eines Tones sind mit arabischen Ziffern durchgezählt, und in den Angaben rechts neben der ersten Zeile findet sich auch die Zählung nach Lachmann. Die Verbesserungen im Layout treffen natürlich auch auf die Anmerkungen und Untersuchungen zu, die durch die Einführung von Absätzen und differenzierter Typographie bedeutend leichter zu handhaben sind.

Moser und Tervooren haben auch den Umfang des Werkes ausgeweitet: Sie vergrößern nicht nur den Bestand der Texte, indem sie Strophen aus den Anmerkungen in den Textband holen (zum Beispiel im Abschnitt der Namenlosen Lieder) oder auch neue Dichter in die Anthologie aufnehmen, wie zum Beispiel Herger oder Gottfried von Straßburg, sondern sie erweitern das gesamte Werk um einen weiteren den zweiten Band: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen. Wie der Titel schon aussagt, findet man in diesem Band einen Aufsatz, in dem Moser und Tervooren ihre Vorstellung von Editionsarbeit erläutern, Hinweise zu den Melodien der Lieder des Minnesangs (ein Aufsatz von Helmut Lomnitzer und Notenbeispiele), ein Verzeichnis der benutzten Handschriften mit einer nach Themen gegliederten Literatursammlung zu den einzelnen Handschriften und schließlich die Anmerkungen von Moser und Tervooren.

Die beiden anderen Bände haben ebenfalls eine Umgestaltung erfahren: Der erste Band umfasst ausschließlich die Texte; die Anmerkungen wurden ausgegliedert. Der dritte Band, die Untersuchungen, ist zweigeteilt: Der erste Teil sind die Untersuchungen von Carl von Kraus, die, wie die Anmerkungen von Haupt und Vogt, erstmals nicht ergänzt wurden, sondern nur einen Nachdruck darstellen, der allerdings, unter der Voraussetzung benutzerfreundlicher zu werden, überarbeitet worden ist. Der zweite Teil ist ein neu geschaffenes Register, das sich unter Einbeziehung des zweiten Bandes in ein Sachregister und ein Autoren und Werkregister gliedert. Die Begründung für diesen Schritt liefern Moser und Tervooren im Vorwort zum gleichen Band:

Nach einigen Versuchen sahen wir aber recht schnell, daß nur ein Nachdruck diesen Werken gerecht werden konnte, denn sie tragen das Signum einer Philologie, die so stark von der Persönlichkeit der einzelnen Bearbeiter geprägt worden ist, [...] Dennoch wollen wir es bei einem bloßen Nachdruck nicht belassen, [...] Die ‚Anmerkungen' und ‚Untersuchungen' sind eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der über Minnesang arbeitet. Aber selbst der, der mit den Werken vertraut ist, findet die gewünschte Information, sofern sie liedübergreifende Fragen betreffen, oft gar nicht oder erst nach mühseligem Recherchieren.   *

Die obigen Ausführungen belegen, dass Des Minnesangs Frühling durch die Bearbeitung von Hugo Moser und Helmut Tervooren in eine zeitgerechte und der aktuellen Wissenschaft entsprechende Gestalt gebracht worden sind. Seit dem Jahre 1977 sind unter der Leitung dieser beiden Bearbeiter zwei weitere Auflagen gefolgt, die sich allerdings nur in Kleinigkeiten von der 36. Auflage unterscheiden. So wurde zum Beispiel verstärkt Wert darauf gelegt, überlieferungsgeschichtliche Zusammenhänge deutlicher zu machen, und der 38. Auflage wurden auch Abdrucke neu gefundener Fragmente (Budapester und Kremsmünsterer Fragment) angefügt.

Abschließend kann man also feststellen, dass die Bearbeitung Des Minnesangs Frühling durch Moser und Tervooren sich also im akademischen Bereich durchgesetzt hat. Einerseits ist dies sicher auf die zeitgemäße Bearbeitung zurückzuführen, andererseits aber auch auf den kanonischen Charakter des Werkes, wie im Vorwort zur 38. Auflage bemerkt wird.

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