Aus den oben in chronologischer Ordnung aufgelisteten Beschreibungen der einzelnen Bearbeitungen kann man deutlich die Entwicklungen in der Editionswissenschaft von ihren Anfängen bis heute und die verschiedenen darin auftretenden Strömungen ablesen. Da Lachmann und Haupt in einer jungen Wissenschaft als führende und qualifizierte Persönlichkeiten gelten, scheuen sich alle weiteren Bearbeiter der folgenden Jahrzehnte, in diesem Fall Friedrich Vogt und Carl von Kraus, die Neuerungen der Wissenschaft analog auf das Werk umzulegen. Der Geist Lachmanns beeinflusst das Erscheinungsbild und den Inhalt
Des Minnesangs
Frühling bis in die späten Siebzigerjahre dieses Jahrhunderts. Besonders Carl von Kraus hat idealtypische Vorstellungen zur Verwirklichung der Lachmannschen Methode und wendet diese auch ohne Kompromisse und ohne auf kritische Stimmen aus wissenschaftlichen Kreisen zu achten auf die Texte in diesem Werk an.
Erst mit der Arbeit von Hugo Moser und Helmut
Tervooren wird einer modernen und revidierten Editionstechnik Rechnung getragen,
und die Texte in
Des Minnesangs Frühlingbleiben den in den Handschriften
überlieferten Texten so nahe wie möglich. Den Schritt, den Moser und Tervooren
wagten, formuliert Peter Wapnewski äußerst pointiert in einer Kritik in der
Süddeutschen Zeitung: "H. Moser und H. Tervooren haben den Frühling des
Minnesangs wieder da angesiedelt, von wo er kam: bei den Handschriften; in den
germanistischen Seminaren wird man künftig allererst lesen, was die
Überlieferung sagt, und hernach unter dem Strich die Vorschläge der Forschung
[...]"
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