2.2. Die Editionen im Vergleich

2.2.1. Vergleich auf lexikalischer Ebene

In diesem Abschnitt möchte ich die Unterschiede der Editionen zum überlieferten Text und zu einander darstellen. Um diesen Vergleich möglichst übersichtlich zu gestalten, habe ich mich dafür entschieden, die Ergebnisse in Form einer Tabelle zusammenzufassen. Im Anschluss an diese werde ich sie natürlich kommentieren und versuchen, Begründungen für die einzelnen Vorgehensweisen der Editoren zu finden. Die Versangaben in der ersten Spalte beziehen sich auf die Nummerierung nach Karl Lachmann, da sich drei der von mir analysierten Editionen an dieser Zählung orientieren. Die Nummer nach der Versangabe dient dazu, die einzelnen Verszeilenangaben in der weiteren Analyse, wo sie in Klammer nach der Verszeilennummer gestellt ist, besser von einander unterscheiden zu können. Die Sternchen (*) nach dem jeweiligen Wort zeigen an, ob in der Edition ein Eintrag zu der betreffenden Stelle im Handschriften-Apparat zu finden ist.

Vers

Nr.

HS

Lachmann

Vogt

Kraus

Moser/Tervooren

4,2

1

jarlant*

jârlanc*

jârlanc*

jârlanc

jârlanc

4,2

2

lieht

sleht*

lieht

lieht*

líeht

4,5

1

so

-*

-*

-*

4,6

1

die

diu*

diu*

diu*

die

4,6

2

benenment

benement*

benement*

benement*

benement*

4,6

3

ime

ime

ime

im

ime

4,8

1

ime

ich ime*

i’me*

i’m*

ime

4,13

1

ich

sich*

sich*

sich*

in Anm.

4,13

2

vroiwen

vröwent*

vröwent*

vröwent*

in Anm.

4,16

1

vil menegen

menegen*

vil menegen

vil menegen

in Anm.

Die Änderungen aller Editoren in den Versen 4, 2 (1) / 4,6 (2) / 4,3 (1) sind einfach nachzuvollziehen, da es sich hier um einfache Emendationen von Schreibfehlern in der Handschrift handelt.

Die Entscheidung Lachmanns anstelle des Wortes lieht den Ausdruck sleht zu verwen-den, ist weitaus schwieriger zu erklären. Die einzige Erklärung, die mir möglich erscheint, ist, dass Lachmann nach einem semantisch besseren und dem Originaltext näheren Wort gesucht hat. Unter dem Eintrag lieht findet sich im Wörterbuch folgendes: "hell, strahlend, blank, bleich, heiter, erleuchtend" * - fast alles Wörter, die dem Bild eines kahlen und leeren Baumes nicht vollständig ent-sprechen. Bei sleht dagegen findet sich: "in gerader Fläche oder Linie, eben, gerade, glatt, nicht voll, leer mit Gen., aufrichtig, schlicht, einfach". * Bei genauerer Betrachtung dieser Übersetzungs-möglichkeiten muss man allerdings feststellen, dass sie in semantischem Sinne eigentlich die gleichen Möglichkeiten bieten wie das Wort lieht. Für mich ist die Konjektur Lachmanns also in keiner Weise gerechtfertigt, da der überlieferte Text einerseits durch die Verwendung des Wortes lieht nicht korrumpiert ist und andererseits durch die Verwendung des Wortes sleht keine we-sentliche Verbesserung entsteht.

Die Konjekturen in den Versen 4,5 / 4,6 (3) / 4,16 führe ich bei Lachmann, Vogt und Kraus darauf zurück, dass sie alle, manchmal auf unterschiedliche Weise, danach trachten die Verszeilen dem konstruierten Metrikschema für die Minneliedstrophe anzupassen. Bei der Tilgung in Vers 4,16 kann natürlich auch die reduplizierende Bedeutung der Wörter vil und menegen eine zusätzliche Rolle spielen. Moser und Tervooren folgen der hypothetischen Vorgabe eines Metrikschemas nicht und nehmen deshalb die Version der Handschrift in ihre Edition auf. In ihren "Bemerkungen zu den Texten dieser Ausgabe" stellen sie auch fest, dass mehr als die Hälfte aller Konjekturen ihrer Vorgänger auf die Einhaltung des festgelegten Metrikschemas zurückgehen. Ähnliche Gründe hat wahrscheinlich auch die Konjektur in Vers 4,6 (1), wo auf die für die Entstehungszeit der Strophe typischere Form diu zurückgegriffen wird. Notwendig oder gar besser erscheint mir dieser Schritt allerdings nicht.

Die Besserung in Vers 4,13 (2) lässt sich durch eine grammatische Analyse begründen. Die Form vroiwen der Handschrift kann grammatikalisch auf zwei verschiedene Arten interpretiert werden: a) infinit als Infinitiv und b) finit als 3. Person Plural Konjunktiv. Syntaktisch bleibt aber nur Möglichkeit b. Die Editoren setzen statt dessen vröwent (3. Person Plural Indikativ) ein, um dem Satz den hypothetischen Charakter zu nehmen und in den übrigen Text einzupassen. Von einem theoretischen, grammatikalischen Standpunkt aus wäre die Verwendung beider Versionen zulässig, ob dies aber auch auf inhaltlicher Ebene der Fall ist, wird sich später zeigen. Für die Konjek-tur in Vers 4,8 sind ebenfalls grammatische Gründe anzuführen, die von Moser und Tervooren in ihren Anmerkungen allerdings widerlegt werden.

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