In diesem Abschnitt möchte ich die
Unterschiede der Editionen zum überlieferten Text und zu einander darstellen.
Um diesen Vergleich möglichst übersichtlich zu gestalten, habe ich mich dafür
entschieden, die Ergebnisse in Form einer Tabelle zusammenzufassen. Im Anschluss
an diese werde ich sie natürlich kommentieren und versuchen, Begründungen für
die einzelnen Vorgehensweisen der Editoren zu finden. Die Versangaben in der
ersten Spalte beziehen sich auf die Nummerierung nach Karl Lachmann, da sich
drei der von mir analysierten Editionen an dieser Zählung orientieren. Die
Nummer nach der Versangabe dient dazu, die einzelnen Verszeilenangaben in der
weiteren Analyse, wo sie in Klammer nach der Verszeilennummer gestellt ist,
besser von einander unterscheiden zu können. Die Sternchen (*) nach dem
jeweiligen Wort zeigen an, ob in der Edition ein Eintrag zu der betreffenden
Stelle im Handschriften-Apparat zu finden ist.
Die Änderungen aller Editoren in den
Versen 4, 2 (1) / 4,6 (2) / 4,3 (1) sind einfach nachzuvollziehen, da es sich
hier um einfache Emendationen von Schreibfehlern in der Handschrift handelt.
Die
Entscheidung Lachmanns anstelle des Wortes
lieht den Ausdruck
sleht zu
verwen-den, ist weitaus schwieriger zu erklären. Die einzige Erklärung, die mir
möglich erscheint, ist, dass Lachmann nach einem semantisch besseren und dem
Originaltext näheren Wort gesucht hat. Unter dem Eintrag
lieht findet sich im
Wörterbuch folgendes: "hell, strahlend, blank, bleich, heiter, erleuchtend"
* -
fast alles Wörter, die dem Bild eines kahlen und leeren Baumes nicht vollständig
ent-sprechen. Bei
sleht dagegen findet sich: "in gerader Fläche oder Linie,
eben, gerade, glatt, nicht voll, leer mit Gen., aufrichtig, schlicht, einfach".
*
Bei genauerer Betrachtung dieser Übersetzungs-möglichkeiten muss man allerdings
feststellen, dass sie in semantischem Sinne eigentlich die gleichen
Möglichkeiten bieten wie das Wort
lieht. Für mich ist die Konjektur Lachmanns
also in keiner Weise gerechtfertigt, da der überlieferte Text einerseits durch
die Verwendung des Wortes
lieht nicht korrumpiert ist und andererseits durch
die Verwendung des Wortes
sleht keine we-sentliche Verbesserung entsteht.
Die
Konjekturen in den Versen 4,5 / 4,6 (3) / 4,16 führe ich bei Lachmann, Vogt und
Kraus darauf zurück, dass sie alle, manchmal auf unterschiedliche Weise, danach
trachten die Verszeilen dem konstruierten Metrikschema für die Minneliedstrophe
anzupassen. Bei der Tilgung in Vers 4,16 kann natürlich auch die reduplizierende
Bedeutung der Wörter
vil und
menegen eine zusätzliche Rolle spielen. Moser
und Tervooren folgen der hypothetischen Vorgabe eines Metrikschemas nicht und
nehmen deshalb die Version der Handschrift in ihre Edition auf. In ihren
"Bemerkungen zu den Texten dieser Ausgabe" stellen sie auch fest, dass mehr als
die Hälfte aller Konjekturen ihrer Vorgänger auf die Einhaltung des
festgelegten Metrikschemas zurückgehen. Ähnliche Gründe hat wahrscheinlich auch
die Konjektur in Vers 4,6 (1), wo auf die für die Entstehungszeit der
Strophe typischere Form
diu zurückgegriffen wird. Notwendig oder gar besser
erscheint mir dieser Schritt allerdings nicht.
Die Besserung in Vers 4,13 (2)
lässt sich durch eine grammatische Analyse begründen. Die Form
vroiwen der
Handschrift kann grammatikalisch auf zwei verschiedene Arten interpretiert
werden: a) infinit als Infinitiv und b) finit als 3. Person Plural Konjunktiv.
Syntaktisch bleibt aber nur Möglichkeit b. Die Editoren setzen statt dessen
vröwent (3. Person Plural Indikativ) ein, um dem Satz den hypothetischen
Charakter zu nehmen und in den übrigen Text einzupassen. Von einem
theoretischen, grammatikalischen Standpunkt aus wäre die Verwendung beider
Versionen zulässig, ob dies aber auch auf inhaltlicher Ebene der Fall ist, wird
sich später zeigen. Für die Konjek-tur in Vers 4,8 sind ebenfalls grammatische
Gründe anzuführen, die von Moser und Tervooren in ihren Anmerkungen allerdings
widerlegt werden.