Ähnlich wie aus dem Vergleich der einzelnen Auflagen
Des Minnesangs Frühling kann man aus dieser detaillierten Analyse die verschiedenen Strömungen in der Editionswissenschaft ablesen. Was hier allerdings viel deutlicher zum Vorschein kommt, ist die Abhängigkeit, in der diese Strömungen und die daraus hervorgehenden Ergebnisse zu einander stehen. Mit dieser Abhängigkeit entsteht die von Moser und Tervooren angesprochene Gefahr eines "Zirkels" , in dem sich die einzelnen Forscher auf konstruierte Grundlagen und die Ergebnisse ihrer Vorgänger berufen, um ihre Entscheidungen zu rechtfertigen. Allgemein beziehe ich mich auf metrische und grammatische Grundlagen, die Auslöser für unzählige Konjekturen in den einzelnen Editionen sind; und als besonderes Beispiel möchte ich hier die Folgen, die Vogts Irrtum im Falle des Reimpunktes hatte, aufzeigen: Die Ergebnisse, die Heusler in seinem Werk liefert , beruhen auf den Ergebnissen Vogts. Darurch ist es Heusler hier möglich, einen zweitaktigen Halbvers zu setzen und somit die Zeilen als jünger anzusetzen.
Ein weiterer Aspekt, der in dieser Analyse deutlich
zum Vorschein kommt, ist das Umdenken, das in den Sechziger und Siebzigerjahren
in der Editionswissenschaft stattgefunden haben muss. Dies wird in der
Editionsweise von Moser und Tervooren deutlich: Sie nehmen Abstand von der
Konstruktion eines Philologentextes durch Berufung auf Metrik und Grammatik. Sie
stellen mit dem Prinzip der Leithandschrift die Überlieferung in den Vordergrund
und verzichten auf die Rekonstruktion eines Textes in seiner ältesten Gestalt.
Was sie mit ihrer Editionsmethode erreichen wollen, ist die Schaffung eines
Arbeitstextes, der es dem Benutzer ermöglicht, diesen nach Belieben in jeglicher
Form weiter zu bearbeiten.