Die Recherchen zu meiner Arbeit und besonders der Vergleich der Editionen mit der handschriftlichen Überlieferung haben mich dazu bewogen, selbständig einen Editionsversuch des im letzten Kapitel analysierten Textes zu unternehmen. Ausschlaggebend für mich war die Entscheidung Mosers und Tervoorens, die, obwohl sie immer versuchen der Handschrift so nahe wie möglich zu sein, den Zusatz der Handschrift zur Strophe "Diu linde ist an dem ende" kommentarlos in die Anmerkungen verbannt haben. Mit meinem Editionsversuch will ich und kann ich natürlich nicht beweisen, dass dieser Zusatz ein Teil der Strophe / des Liedes ist; aber ich möchte aufzeigen, dass einige sehr wichtige Argumente für diese These sprechen.
Diu línde íst an dem éndè nu járlanc líeht únde blóz.
mich véhet mín geséllè, nu engílte ich dés ich níe genóz.
so víl ist únstæter wíbè, díu benément íme den sín.
got wízze wól die wárhèit, daz íme diu hóldèste bín.
5 si enkúnnen níewan tríegèn vil ménegen kíndèschen mán
owé mir síner jugéndè, diu múoz mir ál ze sórgèn ergán!
sich vróiwent áber die gúotèn, díe da hóhe sínt gemúot,
dáz der
súmer kómen sól. séht wie wól daz vil ménegen hérzen túot!
Das wichtigste Argument, dass mit diesen Versen einen
zusammengehörigen Text überliefert wird, ergibt sich aus der Handschrift selbst:
Seit Vogt argumentieren die Editoren, dass die Verse eine spätere Anfügung an
den ersten Teil der Strophe sein sollen, doch aus der Handschrift selbst wird dies
nicht ersichtlich. Der Text zeigt keine Merkmale einer Aussparung, die mit den
Versen nachträglich gefüllt worden ist. Durch die geschickte Einpassung des
letzten Wortes
tuot in die nächste Zeile und somit in den
grundlegenden optischen Seitenaufbau kann man das Gegenteil annehmen: Um am Zeilenbeginn
eine verzierte Lombarde zu ermöglichen, setzt der Schreiber das Wort an das Ende
der nächsten Zeile und lässt den Text der neuen Strophe herumfließen.
Die Zugehörigkeit des Wortes zur oberen Zeile wird anschließend mit einer
roten Verzierung gekennzeichnet. Man kann natürlich argumentieren, dass die
Zeilen, ähnlich wie die Sondergutstrophen in die Sammlung Walters von Mezze, während
der Entstehung der Handschrift oder aber schon in einer Vorlage zur Handschrift
an den übrigen Text angefügt worden sind. Das Problem, das sich dabei ergibt,
ist, dass diese Theorien rein auf Spekulation beruhen würden. Stichhaltige
Beweise dafür oder dagegen wird es wahrscheinlich nie geben, und so berufe ich
mich mit meiner Argumentation auf das, was vorhanden ist.
Ein weiteres Argument
ist die Bindung der Verse durch den Paarreim
gemuot - tuot, der auch durch
Reimpunkte hervorgehoben ist. Passend zum vorangehenden Text kann man die Verse
nun als Langzeilen lesen, die sich auch in das konstruierte Metrikschema
einpassen würden. Dass der Binnenreim
sol - wol vom Schreiber nicht besonders
markiert ist, habe ich an anderer Stelle schon angeführt. Ein Problem stellt
allerdings der Reimpunkt nach sol dar, der meinem Editionsversuch widerspricht.
Gegen den Reimpunkt an dieser Stelle spricht einerseits die Bildung einer
Langzeile, und andererseits findet man drei Zeilen weiter unten in der
Handschrift ein ähnlich verwirrendes Beispiel: [... Sanc gan. manegen ma. ] Ein
Vergleich der übrigen Wortendungen mit dem Buchstaben "a" zeigt, dass dieser
Punkt, der in meinem Beispiel als Vergleich herangezogen wird, nicht als
Verlängerung des Aufstriches gesehen werden kann sondern wirklich einen
Reimpunkt darstellt.
Einem Argument anderer Editoren möchte ich mich allerdings
verschließen: dem Bereich der Metrik, den ich in meinem Editionsversuch
weitgehend außer Acht gelassen habe. Trotzdem habe ich als einen Lesevorschlag
den edierten Text mit den entsprechenden Hebungen versehen. Ich bin aber der
Meinung, dass man, ohne eine tradierte Melodie zu einer Minnestrophe zu kennen,
auf Grund theoretisch konstruierter Metrikschemata in keinem Fall genaue
Aussagen über die Betonung eines Textes machen kann. Schlussendlich wird auch
immer die Melodie, die Musik, das Instrument eine entscheidende Rolle in der
Umsetzung eines Textes gespielt haben. Weiters geht man in der neueren Forschung
davon aus, dass es so etwas wie eine "Fassung letzter Hand" in der
mittelhochdeutschen Lyrik nicht oder nur sehr selten gegeben hat, da auch
äußere Einflüsse wie Auftrittsort oder Publikum eine große Rolle für die
Umsetzung und Darbietung der Lieder gespielt haben, und diese Aspekte wirken
sich natürlich auch auf die metrische Realisierung eines Textes aus.
Das letzte
Argument für meinen Editionsversuch ist der inhaltliche Aspekt. Die Zeilen
schließen sich logisch an den übrigen Text an und müssen auch nicht, wie Vogt
feststellt, einer gegensätzlichen Stimmung Ausdruck verleihen. Eine andere
Interpretation wäre, wenn man die
guoten als charakterlicher Gegenpart zu den
unstæten wibe am Beginn der Strophe sieht. Die einen, die dem Minneideal folgen,
sehnen die Zeit der Liebe herbei (
sumer), und die anderen lassen sich nicht von
einer zumindest im Minnelied propagierten "jahreszeitlichen Bindung"
beeinflussen. Diesen formelhaften Wendungen begegnet man schon im frühen
Minnesang sehr häufig und alleine unter den "Namenlosen Liedern" in Des
Minnesangs Frühling finden wir zwei weitere Beispiele, die eine ähnliche
Kombination von Formeln verwenden: X, XII. Auf diese Weise betrachtet fügen sich
die Zeilen ohne inhaltliche Spaltung übergangslos in den Text ein. Es wird
dadurch aber ein inhaltlicher Bogen geschaffen, der es jetzt ermöglicht, den
Text als Lied mit zwei Strophen zu sehen. Die erste stellt die Situation dar,
und die zweite ist eine kritische Auseinandersetzung mit den in der ersten
Strophe genannten "leichtfertigen Frauen".
Als letzten Punkt muss ich auch meine
Entscheidung, die von anderen Editoren gewählte Form
vröwent an Stelle des
handschriftlichen
vroiwen zu setzen, rechtfertigen: Im inhaltlichen
Zusammenhang kann eine Konjunktivform nicht existieren, denn der letzte Satz
des Textes (
seht wie
wol daz vil menegen herzen tuot) schließt die Verwendung
des Konjunktiv aus.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, in diesen
wenigen Zeilen meinen Standpunkt deutlich zu machen und die Zusammengehörigkeit
der "beiden" Texte zu veranschaulichen. Natürlich kann die Darstellung nicht für
eine endgültige Entscheidung, soweit diese überhaupt möglich ist, stehen. Dafür
müssten die gesamten wissenschaftlichen Ergebnisse zu diesem Text analysiert und
ausgewertet, be oder widerlegt werden. Dies würde aber nicht nur den Umfang
dieser Arbeit sondern auch den inhaltlichen Rahmen zu sehr ausdehnen.